Gerade die 1950er Jahre werden bei uns gern verdrängt, im Geschichtsunterricht mit einem Satz abgehakt und generell als langweilig abgetan. Damals musste alles neu aufgebaut werden, und die Mentalität des Ärmelhochkrempelns taugt nicht zur geschichtsträchtigen Erinnerung, es sei denn zur negativen Zuschreibung wie in Heinrich Böll. Das Bild, das auf die 50er Jahre fällt, lässt sich ungefähr so beschreiben: Die Aufarbeitung der kollektiven nationalsozialistischen Kompromittierung war noch kein Thema; die Leute waren vor allem arm und suchten nach seichter Muse; nach der Zerstörung durch Faschismus, Stalinismus und vor allem Nationalsozialismus hielt eine neue Prüderie Einzug, und so bestand die erste Aufarbeitungswelle darin, die profanen und rassistischen Werte der vergangenen Jahrzehnte abzustoßen, um sich auf wahre Werte zu besinnen; und auf der Suche nach neuen Werten besann man sich zunächst auf die alten Werte, also religiöse Werte und die Familie, das ist am einfachsten und schnellsten, die Biedermeierisierung der Gesellschaft kehrt ja als regelmäßiges Gespenst zurück; tout court, der Körperkult des arischen Nacktmodells, das kraft seiner Freude Bälle in die Luft warf und wieder fing, wich dem „anständigen Mädel“ der flunderflachen Nachkriegsklamotte. In den 50ern hieß es plötzlich „Luftsprünge“ oder „zwölf Mädchen und ein Mann“, Skistars wurden Filmstars, vergessene Jahre, vergessene Klamotten.
Aber wie war es nun wirklich? Die am Mittwoch anwesenden Zeitzeugen vermittelten – zumindest für Meran – ein anderes Bild. Die Leute – so Gigi Bortoli – hatten nicht viel und die Jungen wollten vor allem feiern und tanzen. Karriere war kein Begriff, es galt erst einmal einen Kühlschrank oder eine Wohnung mit Badezimmer zu erlangen. Und offensichtlich ging es auch darum, sich wieder zu unterhalten. Allein in der Innenstadt – so Bortoli – gab es fünf oder sechs Tanztempel, also sechs mehr als heute. Junge deutsche Soldatenwitwen aus Süddeutschland waren besonders beliebt bei den jungen Tänzern, darin waren sich die Zeitzeugen einig, und Italiener und Südtiroler mischten sich im nächtlichen Meran offenbar unter dasselbe Volk, während tagsüber das Misstrauen gegenüber der anderen Sprachgruppe bestehen blieb. Und mancherorts bis heute besteht.
Einen der interessantesten Aspekte brachte der Meraner Historiker Leopold Steurer ein, der wie üblich versiert und unterhaltsam zugleich den Abend bestritt. Es ging um die Situation der Presse in den 1950er Jahren. Steurer wies darauf hin, dass Meran nach dem Krieg auf deutschsprachiger Seite einen großen medialen Auftrieb erhielt, weil die noch besetzten und geteilten Länder Deutschland und Österreich zu jener Zeit keine freie Presse mehr besaßen, alles lief durch die Zensur der Alliierten, publiziert wurde wenig, und so wurde Meran neben der Schweiz plötzlich zu einem kulturellen Fokus. Natürlich zog diese „Freiheit“ – so Steurer – auch viele kompromittierte Journalisten an, darunter echte Nazis, es tummelte sich in jener Zeit offenbar so ziemlich alles in Meran, von Nazijägern bis Mengele. Doch davon, darüber waren sich die Zeitzeugen einig, haben die Südtiroler Landbevölkerung und auch viele Meraner nichts mitbekommen. Das Kulturleben wurde von den Italienern, die nach dem Nationalismus den Anschluss an den Internationalismus suchten, und von Ausländern deutscher und amerikanischer Herkunft geprägt.
Die deutschsprachigen Meraner und Südtiroler insgesamt hatten andere Sorgen, wollten den Tourismus ankurbeln, die Stadt wieder aufbauen. Und sie waren – so Bortoli – vor allem geprägt durch zwei faschistische Jahrzehnte des kulturellen Niedergangs. Eine ganze Generation konnte weder lesen noch schreiben, Kultur war beschränkt auf Volkstum und Bräuche, Prozessionen und Rumtata-Musik (wie Ewald Kontschieder gekonnt ausführte), mit anderen Worten, die Faschisten hatten den deutschsprachigen Südtirolern kulturell arg zugesetzt und dies zeigte sich bis in die späten 60er Jahre hinein. Dass die Südtiroler Anfang des 20. Jh. kosmopolitischer gewesen waren, daran darf man allerdings zweifeln (Anm. d. Red.).
Vittorio Cavini definierte daher den kulturellen Aufbruch nach dem Krieg folgerichtig als einen Aufbruch, der de facto von Anfang an eine Elite-Kultur war, von der die meisten nichts mitbekommen haben. Die „kulturelle Explosion“ – so Cavini ironisch – fand nicht etwa statt, als Ezra Pound nach Meran kam, sondern als sich das Gerücht verbreitete, Ezra Pound würde bald kommen.
Bei der deutschsprachigen Bevölkerung tat sich diesbezüglich gar nichts, die Reaktion der Bauern – so Rösch bereits vor der Veranstaltung – war eher „was will denn der Faschist hier?“. Auch hier gab es also einen klaren Bruch, der sich durch die Südtiroler Gesellschaft zog (wiewohl Meran eine Ausnahme darstellte, eine „liberale Insel“, so Rösch), denn der gesellschaftliche Bruch zwischen Transitland-Rückzugsland, Zentrum-Provinz, urban-rural, Bildungsbürgertum-Landbevölkerung verlief beinahe nahtlos entlang der italienisch-deutschen Sprachgrenze. Einzig die Verteilung der Besitzverhältnisse war diesem Bruch diametral entgegengesetzt, waren doch die Tiroler Bauern die besitzende Klasse, die Italiener hingegen das Gros der Stadtbevölkerung – eine fatale Mischung, die ab den frühen 1960er Jahren ihre ideologische und terroristische Sprengkraft entfalten sollte.
Rosanna Pruccoli vervollständigte das Bild, indem sie einen Rückblick in das offenbar weltoffenere Meran zur Jahrhundertwende mit seinen fünf Konfessionen vornahm, als Kafka und Lehar hier weilten, und indem sie mit einem kleinen Seitenblick auch auf die Entwicklung und den Niedergang des jüdischen Meran ausführlich über die Kunstschaffenden jener Jahre berichtete, nachzulesen in dem neuen Katalog „Perspektiven der Zukunft“.
Am Ende des überaus gelungenen Abends hatten die Gesprächsteilnehmer wie Gäste einen aufschlussreichen Abend erlebt, getrübt einzig durch die generelle Perspektive auf die Gegenwart und Zukunft 2012. In der Luft lag die Ahnung, dass sich im Grunde nichts verändert habe, immer noch dieselben Konflikte ausgetragen würden, immer noch dieselben Grenzen herrschten, Meran immer noch ein bundesdeutsches Altersheim sei, nur mit dem Unterschied, dass unter den jungen ZeitgenossInnen heute keine Aufbruchsstimmung herrscht.
Einige Gäste, darunter auch ich, waren hingegen glücklich darüber, dass die ganze Veranstaltung nonchalant in beiden Sprachen abgehalten wurde, deutsch und italienisch querbeet, ohne dass es irgendeiner Übersetzung bedurft hätte. Soweit sind wir also schon mal, zumindest in Meran.
Und nach der Veranstaltung erzählte mir der in Ferrara geborene Cavini, dass er seine Tochter schon vor über 40 Jahren in den deutschsprachigen Kindergarten gesteckt hätte. Italiener wie Deutsche hätten ihn damals für verrückt erklärt. „Und – frage ich ihn skeptisch, denn ich kenne auch misslungene Experimente der Immersion – wie ist es gelaufen? Hat es funktioniert? Spricht sie heute noch deutsch?“ Cavini lacht, sie hat Karriere im Wiener Burgtheater gemacht. Unter diesen Umständen, sage ich zu Cavini, spricht sie vermutlich besser deutsch als ich und die meisten meiner Landsleute.